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Wie das Leben in die Philosophie kam. Der Lebensbegriff im philosophischen Diskurs des 19. Jahrhunderts Grundthese
der Arbeit ist, dass Lebensphilosophie keine mythisierende,
vitalistische oder irrationalistische Strömung ist, sondern der
Versuch einer Vermittlung von Resultaten der empirischen
Lebenswissenschaften mit philosophischer Reflexion gerade auch unter
der historischen Bedingung des Fragwürdigwerdens des hegelschen
Systemanspruches (oft als „Zusammenbruch des Idealismus“
apostrophiert). Hierbei geht es nicht um eine Revitalisierung des
Lebensbegriffes, sondern um den ideengeschichtlichen Nachweis, dass im
Laufe der Entwicklung der Lebensphilosophie i. e. S. (also zwischen
1870 und 1918/1933) ethikrelevante Problemzusammenhänge zur
Debatte standen, die auch in gegenwärtigen Diskursen präsent
sind. Lebensphilosophie begegnet dabei primär als Philosophie der (Kultur-)Krise.
Für den lebensphilosophischen Umgang mit dieser Krise ist
charakteristisch, dass die Lösung der kulturellen und
gesellschaftlichen Probleme vielfach nicht mehr der
Philosophie allein zugetraut wird.
Lebensphilosophie versteht sich dabei zumeist explizit als Ansatz zu
einer Hermeneutik der Kultur auf
der Basis des Lebensbegriffes, d.h. es findet ein Konzepttransfer
nichtphilosophischer (lebensweltlicher oder lebenswissenschaftlicher)
Begriffe von ‚Leben‘ in kulturphilosophische Konzepte
statt. Dieser Konzepttransfer ist nichtreduktionistisch und
nichtvitalistisch. Aus der Weise, wie dieser Transfer stattfindet,
lassen sich Bedingungen des Gelingens oder Misslingens von Diskursen
zwischen den Disziplinen ableiten. Eine
weitere Leitthese der Untersuchung ist, dass die historische
Lebensphilosophie immer auch eine kritische (wenngleich meist implizit
bleibende) Auseinandersetzung mit dem Denken Hegels und dem von ihm
repräsentierten Systemanspruch ist. Dieses Systemdenken, und nicht
die „idealistische“ Naturphilosophie, ist der eigentliche
Bezugspunkt der Lebensphilosophie, weil die „idealistische“
Naturphilosophie in Deutschland insbesondere durch die
Erkenntnisfortschritte der Lebenswissenschaften spätestens in den
1840er Jahren obsolet und fragwürdig geworden war. Der
erste thematische Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Analyse der
frühen Schriften Hegels (von seinen frühen Frankfurter und
Jenaer Schriften bis zur Phänomenologie des Geistes).
In einer werkgeschichtlichen Rekonstruktion dieses Entwicklungsweges
wird gezeigt, dass hier genau genommen drei Lebensbegriffe miteinander
interagieren: (1) Der frühe theologische Lebensbegriff, der
Lebendigkeit unter dem Primat der Liebe behandelt, (2) der
Lebensbegriff der Jenaer Zeit, der „Leben“ als spekulativen
Einheitsbegriff positioniert (Leben als Präform der logischen
Dialektik) und (3) der naturwissenschaftliche Lebensbegriff, der
einerseits die Selbstbewusstseinstheorie der Phänomenologie des Geistes und andererseits die Naturphilosophie im
engeren Sinne begründet. Als
Gegenposition und als Ansatz zu einer kritischen, nichtapologetischen
Kulturtheorie wird ferner Schopenhauer behandelt, allerdings lediglich
als Vorbereiter, nicht als Protagonist der Lebensphilosophie.
Schopenhauers Denken bereitet zentrale lebensphilosophische Positionen
vor. Hier ist insbesondere sein Konzept des Mitleids zu nennen, das die
lebensphilosophische Thematisierung des Anderen wesentlich vorbereitet
hat, Schopenhauers Leibbegriff sowie das Konzept des Willens zum Leben,
mit dem Schopenhauer zentrale Motive des späteren Lebensbegriffes
vorweggenommen hat. Ein
zentraler Aspekt der Arbeit ist die Berücksichtigung der
Verbindungen von Lebenswissenschaften und Philosophie. Die
Wiederaufnahme des Lebensbegriffes in den 1870er Jahren (durch
Nietzsche, Dilthey) geschieht nämlich nicht unvorbereitet, sondern
sie ist durch die sich im 19. Jahrhundert vollziehenden Revolutionen in den
Lebenswissenschaften historisch
vermittelt.
Einige lebensphilosophisch relevante Stationen dieser Entwicklung, die
in der Arbeit untersucht werden, sind die Zelltheorie (1840er Jahre),
die Auseinandersetzung mit dem Vitalismus, die Materialismusdebatte
(1850er Jahre), der Darwinismusstreit (in Deutschland ab den 1860er
Jahren) sowie das Programm einer „induktiven Metaphysik“
(Fechner, Lotze), die den Versuch unternahm, unter
Berücksichtigung lebenswissenschaftlicher Erkenntnisse zu einer
metaphysisch relevanten, aber nichtspekulativen Weltanschauung zu
gelangen. Einen
weiteren zentralen Punkt der Arbeit bildet die Auseinandersetzung mit
dem Werk Nietzsches, der, anders als in vielen anderen Darstellungen,
selbst als einer der Repräsentanten der Lebensphilosophie
behandelt wird. In diesem Teil wird zum einen herausgearbeitet, dass
Nietzsches Auseinandersetzung mit den Lebenswissenschaften weitaus
fundierter und „ernsthafter“ war, als dies von der
Sekundärliteratur zumeist dargestellt wird. Zum anderen wird
gezeigt, dass der Lebensbegriff ein zentrales Moment im Denken
Nietzsches darstellt, und zwar bereits seit seinem unvollendeten
Dissertationsprojekt „Der Begriff des Organischen seit
Kant“ über die mittlere, so genannte
„positivistische“ Schaffensphase bis in seine späten
Entwürfe einer Physiologie der Kunst, der Kultur etc. Die folgenden Teile formulieren und entfalten die
These, dass nach 1890 eine weitere historio-semantische
Begriffsdifferenzierung des Lebensbegriffes erfolgt. Der Lebensbegriff
wird sowohl von den Hauptprotagonisten der Lebensphilosophie (Dilthey,
Simmel, Eucken, Spengler, Klages) als auch von den heute weniger
bekannten Lebensphilosophen wie Karl Joël, Theodor Lessing immer
mehr zum Zentralbegriff einer lebensphilosophischen Kulturhermeneutik
ausformuliert, in deren Zentrum vor allem drei Problembereiche stehen:
(1) Vernunft und Rationalismuskritik, (2) Kultur und Kulturkritik und
(3) Das Problem des Anderen. Abschließend
werden Adaptationen lebensphilosophischer Motive in der Philosophischen
Anthropologie, bei Albert Schweitzer und bei Heidegger untersucht.
Während Schweitzer durchaus als Repräsentant einer ethisch
ausgerichteten Lebensphilosophie und als Fortführer der ethischen
Lebensphilosophie des Anderen aufgefasst wird, ist die Philosophische
Anthropologie Schelers Plessners und Gehlens weitaus
eigenständiger, distanziert sich dabei zwar von vitalistischen
Annahmen, nicht aber von der lebensphilosophischen Antiposition von
„Leben“ und „Geist“, die zumindest für
Scheler und Plessner noch bestimmend bleibt. Für alle drei
genannten Autoren gilt jedoch, dass die Ortbestimmung des Menschen in
Auseinandersetzung mit seiner biologischen Ausstattung her erfolgt. Es
ist gerade letztere Voraussetzung, die von Heidegger verworfen wird.
Heideggers Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie ist, so wird
kurz gezeigt, stets um inhaltliche Abgrenzung bemüht, rekurriert
jedoch in wesentlichen Punkten auf seine lebensphilosophischen
Vorgänger. In einem Ausblick werden Perspektiven einer zeitgenössischen Relevanz des Lebensbegriffes in ethischen Diskussionen, in der Biologie und in der Artificial Life-Forschung umrissen. |
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